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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 11.07.2019:

„Ich bin ein aktiver Lernberater.“

Prof. Dr. Jürgen Handke erforscht den Einsatz humanoider Roboter in der Hochschullehre
Das Bild zum Artikel
Prof. Dr. Jürgen Handke und Roboter, Bildrechte: co. 3M-Solutions.de

Können humanoide Roboter das Lehren und Lernen an der Hochschule unterstützen? Die Online-Redaktion sprach mit Prof. Dr. Jürgen Handke, Anglistik- und Linguistikprofessor an der Philipps-Universität Marburg, über den Einsatz von Robotern in seinen Seminaren und Sprechstunden.


Online-Redaktion: Wie kamen Sie auf die Idee, einen humanoiden Roboter in Ihre Vorlesungen mitzunehmen?

Handke: Zuerst muss ich sagen, dass ich Vorlesungen vor 15 Jahren abgeschafft habe, weil ich der Meinung bin, dass man mit dem zunehmenden Wissen im Internet keine Vorlesungen mehr halten muss. Das ist kein zeitgemäßes Lehrmodell mehr. Bei mir gibt es dementsprechend auch keine Hörsäle, die Studierenden erwerben vor den Präsenzphasen ihr Wissen digital über unsere Plattform, so dass ich in den Seminaren selbst die Studierenden vielmehr berate, begleite und mit ihnen Kompetenzen trainiere. Ich bin vom Wissensvermittler zum aktiven Lernberater und -begleiter geworden.

In diesen Präsenzphasen kann ich aber jede Menge Unterstützung gebrauchen. In der Regel helfen mir studentische Tutoren, aber in großen Kursen kann es durchaus mehr Unterstützung sein. So kamen wir – mein Team und ich – 2016 auf die Idee, es mit einem menschenähnlichen, humanoiden Roboter zu versuchen. Mich hat immer schon die Frage interessiert, wie Maschinen das Lernen so unterstützen können, dass sie individuell auf Lerner eingehen.

Online-Redaktion: Konnte Ihr Roboter schon etwas, als Sie ihn bekamen?

Handke: Das war unsere Hoffnung. Als wir ihn auspackten, dachte ich eigentlich, wir machen den großen Karton auf und der sagt: „Hallo Jürgen.“ Aber der konnte gar nichts und meine wissenschaftlichen Mitarbeiter und ich mussten uns erst einmal damit beschäftigen, wie man so einen Roboter programmiert.

Online-Redaktion: Sie erforschen den Einsatz humanoider Roboter in der Hochschullehre im Rahmen des Projekts H.E.A.R.T., das bis zum 31. März 2019 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wurde. Was sind die Ziele des Projekts?

Handke: Die erste Phase von H.E.A.R.T war dazu da zu ermitteln, wie Studierende auf so einen Roboter reagieren. Natürlich kann man nicht erwarten, dass 100 Prozent ihn akzeptieren, es gab auch negative Stimmen, die gefragt haben, ob das, was wir vorhatten, nicht auch mit einem Handy durchzuführen sei. Aber insgesamt war die Stimmung positiv. Uns ging es bei diesem Experiment darum, Mehrwerte zu erzielen, und wenn die Studenten gesagt haben, dass etwas keinen Mehrwert bringt, haben wir es auch gelassen. Alles, was wir getestet haben, wurde evaluiert, so dass wir immer wussten, ob es angenommen wird oder nicht.

In der Zeit, in der H.E.A.R.T vom BMBF gefördert wurde, sind zwei zentrale Anwendungen entstanden. Zum einen die „classroom packages“, zum anderen die Anwendung des Roboters in der studentischen Beratung außerhalb des Seminarraums. Beide bieten einen zentralen Mehrwert, durch den ich als Dozent Freiräume zur individuellen Beratung und Betreuung erhalte habe.

Online-Redaktion: Wie setzen Sie den Roboter Yuki im Seminarraum ein und was sind „classroom packages“?

Handke: Zunächst haben wir eine App für den Roboter konstruiert, die sogenannte Quizmaster-App von der Anwendungslänge her ca. 2, 3 Minuten. Die Studierenden sagten dem Roboter „Hallo“, aktivierten ihn und dann stellte er ihnen Fragen aus mehreren Bereichen. Sie beantworteten die Fragen auf ihrem Handy mit Klick auf Antwort a, b oder c. Anschließend wertete der Roboter die Antworten aus und verkündete das Ergebnis. Da die Arbeitserleichterung noch nicht immens war, beschlossen wir, ganze Bündel von solchen Apps zusammenzufassen. Wir haben dafür den Begriff „classroom packages“ gewählt, es ist weltweit der erste Usecase für humanoide Roboter in der echten Lehre.

Der Roboter stellt in diesen „classroom packages“ zunächst zwei, drei Wissensfragen, dann eine Rechercheaufgabe. Er spricht die Studenten auch immer an und sagt z.B. „So, Ihr habt zehn Minuten Zeit dafür“, er gibt ihnen Tipps oder fragt sie, ob sie verlängern wollen und dann macht er das. Am Ende stellt er eine Kontrollfrage, um zu überprüfen, ob sie auch sauber recherchiert haben und sondiert die Ergebnisse. Alles, was der Roboter macht, können die Studenten auf ihrem Handy nachverfolgen. So eine „package“ dauert in der Regel 20 Minuten und ich kann in der Zeit die Studierenden begleiten und ihnen helfen. Ich muss natürlich als Lernbegleiter viel mehr wissen als vorher, denn ich muss ja auf alle Fragen vorbereitet sein, dadurch gewinnt das Lerngeschehen eine unglaubliche Tiefe.

Wir werden diese „packages“ im Herbst 2019 in die Zahnmedizin übertragen. Rechercheaufgabe wird sein, dass der Roboter zahnmedizinische Fotos präsentiert und die Studenten, die die Bilder auf ihren Handys sehen, Diagnosen erstellen.

Online-Redaktion: Wenn so viel Wissen vorausgesetzt wird, kann man wohl nicht unvorbereitet in Ihre Seminare kommen?

Handke: Ja, wir haben einen Mastery Test eingeführt, bei dem die Studierenden ihr Wissen vor der Präsenzphase nachweisen müssen. Etwa 80 Prozent bestehen diesen Online-Test, außerdem sind immer ca. 80 Prozent in der Präsenzphase anwesend. Wenn Sie das hochrechnen, sind von den 80 fünf unvorbereitet. Wir vermitteln kein Wissen, sondern Kompetenzen und wir testen die Kompetenzen dann auch in den Prüfungen. Die Studenten wissen, wenn sie nicht in die Seminare kommen, haben sie nur geringe Chancen, die Prüfung zu bestehen.

Online-Redaktion: Welche Lernplattformen haben Sie?

Handke: Wir betreiben den „Virtual Linguistics Campus“, die weltweit größte Lernplattform für Inhalte der englischen und allgemeinen Sprachwissenschaft mit weltweit 17.000 registrierten Benutzern. Der YouTube-Kanal „Virtual Linguistics Campus“ enthält 600 frei zugängliche selbst-produzierte Lehrvideos und ist mit 60.000 Abonnenten der größte seiner Art. Darüber hinaus haben wir noch weitere Kanäle, wie z.B. einen Lehrerkanal mit 400 Abonnenten oder einen Kanal für deutsch-arabische Onlinekurse für Flüchtlinge mit 2.000 Abonnenten.

Online-Redaktion: Sie setzen den Roboter auch in Ihrer Sprechstunde ein. Welche Beratungsfunktionen übernimmt er? Wie interagiert er mit den Studierenden?

Handke: Der Roboter informiert in Beratungsgesprächen Studierende über ihren Lernstand in ausgewählten Kursen. Das funktioniert über die so genannte „Student Advisor App“. Der Roboter nutzt die Daten, die auf der Plattform der Studierenden anfallen, sieht, wie oft der Student/die Studentin online war, wie oft er mit den digitalen Daten interagiert hat, welche Testergebnisse produziert worden sind etc. Aus diesen ganzen Daten generiert er ein Lernerbild. Er weiß, ob der Student, der vor ihm sitzt, ein guter oder ein nicht so guter Student ist. In der Sprechstunde teilt er den Studierenden dann mit, woran es fehlt, wo sie Hilfe brauchen, er gibt Tipps wie, „Verschiebe nicht so viel wie bisher“ oder „Arbeite ein bisschen zeitnaher“ oder er lobt sie auch. Und er beantwortet auch „normale“ Fragen, zum Beispiel, wann und wo die Abschlussklausur oder die nächste Sprechstunde ist. Die Gespräche mit dem Roboter werden protokolliert und den Studierenden per E-Mail zugesandt. Die Identifikation erfolgt durch den privaten QR-Code der Studierenden, die sie von unserer Plattform auf ihr Handy laden. Gesichtserkennung könnte er auch, aber die ist uns noch nicht stabil genug.

Online-Redaktion: Entwickeln Sie das Projekt jetzt nach Förderschluss weiter?

Handke: Ja, wir haben schon einen neuen Partner, die Chinese University of Hongkong, die mit uns diese „classroom packages“ weiterentwickeln will und uns eine Plattform zur Verfügung gestellt hat, über die die Austauschdaten jetzt laufen. Sie geben Teile ihrer Codes für uns frei, damit wir in ihre Plattformen kommen, aber dafür laufen unsere Anwendungen auch auf deren Robotern und sie können sie in ihren eigenen Lernszenarien einsetzen.

Online-Redaktion: Wie reagieren Ihre Kollegen. Wollen die jetzt auch einen Yuki?

Handke: Nein, gar nicht, die ignorieren das. Das geht uns schon seit Jahren so, weil wir uns nicht um die deutschen Hindernisse, die da heißen: Scheiternkultur gibt es nicht, man teilt nicht, man kollaboriert nicht, man definiert immer nur die Ängste und Risiken, kümmern. Viele deutsche Kollegen wagen sich nicht auf Neuland. Sie wehren sich gegen jegliche neue Lehrform, haben Angst, dass sie nicht mehr gebraucht werden. Seit Mitte der 90er hat die Presse begonnen zu schreiben „Computer ersetzt Professoren“, das hängt mir seit dieser Zeit als Label an. Aber das stimmt nicht. Die digitale Lehre selber stärkt die Präsenzlehre. Was wir machen, ist Kompetenztraining erster Klasse.

Online-Redaktion: Sie leiten noch ein weiteres Projekt mit humanoiden Robotern, das „RoboPraX“. Was ist darunter zu verstehen?

Handke: Ja, bei „RoboPraX“ nutzen wir humanoide Roboter nicht als Partner, so wie jetzt im Lehr- und Lerngeschehen, sondern als Werkzeug, um Schülerinnen und Schülern in mehrtägigen Schulungen, dem sogenannten „Robotikum“ den Umgang mit der digitalen Welt näher zu bringen. Wir haben das „Robotikum“ mit der Unterstützung der Stadt Marburg ins Leben gerufen. Über das Schulamt wurde uns an einer Marburger Schule ein Raum zur Verfügung gestellt, ausgestattet mit 15 Laptops und einem Beamer, wir haben vier humanoide Roboter mitgebracht. Seit dem 1. April 2018 unterrichten wir dort jede Woche Schulklassen der Jahrgänge 8 bis 13. Die werden an drei Tagen in jeweils fünf Stunden im Umgang mit Robotern ausgebildet. Sie lernen kennen wie Roboter sprechen, wie sie sich bewegen und wie sie sehen. Es ist unglaublich, wie sie ihr digitales und algorithmisches Denken in diesen drei Tagen verändern. Das ist auch unsere Idee für die Realisierung des Digitalpakts in Deutschland. Roboter sind sehr gut dafür geeignet, die digitale Welt und ihre Möglichkeiten ohne Vorkenntnisse kennenzulernen und zwar fachunabhängig. Ich bin ein Gegner davon, Schulen mit Tablets auszustatten. Erstens sind die in drei Jahren veraltet, dann brauchen wir wieder Geld, und zweitens gibt es kaum didaktische Konzepte dafür. Und drittens wäre das Geld viel besser dafür angelegt, die Lehrer erst einmal für die digitale Welt auszubilden.

Online-Redaktion:
Welche Pläne haben Sie für die Zukunft?

Handke: Wir wollen die „classroom packages“ so gestalten, dass sie vertreibbar sind. Wir wollen ihre Benutzung vereinfachen, damit sie auch von Kollegen, die sich in der digitalen Welt noch nicht so gut auskennen, bedient werden können. Viele haben Berührungsängste, dabei verschaffen sie einem als Dozenten Freiräume, die man für die Beratung und Unterstützung der Studierenden nutzen kann.



Prof. Dr. Jürgen Handke ist ein deutscher Pionier für digitale Lehr-, Lern- und Prüfungsszenarien sowie den Einsatz humanoider Roboter in der Hochschullehre. Ausgezeichnet mit diversen Lehrpreisen, darunter der Ars Legendi Preis für digitales Lehren und Lernen, berät er Hochschulen und Wirtschaftsunternehmen in Sachen Digitalisierung und Assistenzrobotik und ist Mitglied im Kernkompetenzteam des „Hochschulforums Digitalisierung“, sowie der Strukturkommission für die neuzugründende TU Nürnberg.

 

 

 

Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 11.07.2019
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